Anforderungen an einen Stichentscheid (Berufung)

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Das Stichentscheids-Verfahren stellt ein immer wiederkehrendes und für den ein oder anderen Bearbeiter zuweilen wohl auch leidvolles Thema dar. Um etwas Licht ins Dunkle zu bringen haben wir uns bereits in vergangenen Beiträgen mit den Anforderungen, die an einen Stichentscheid zu stellen sind, beschäftigt. An dieser Stelle soll der Blick auf eine bislang noch nicht beleuchtete Konstellation gerichtet werden: den Stichentscheid für das Berufungsverfahren.  

In diesem Verfahrensstadium befinden sich aktuell zahlreiche Verfahren der zweiten Klagewelle des Diesel-Abgasskandals. Viele Versicherer zeigen sich (soweit kaum verwunderlich) nach einem Unterliegen in erster Instanz nicht im Besonderen motiviert, auch das Risiko des Berufungsverfahren zu übernehmen und wenden auch hier regelmäßig die mangelnden Erfolgsaussichten ein. Nicht zuletzt diese Erkenntnisse aus dem Tagesgeschäft sollen Anlass bieten, um sich mit den Besonderheiten des Stichentscheidverfahrens im Rahmen der Berufung auseinander zu setzen. 

Das Grundgerüst bleibt gleich 

Wie auch in jedem anderen Verfahrensstadium gilt zunächst, dass der Stichentscheid eine von der Interessenvertretung losgelöste Beurteilung der Sach- und Rechtslage darstellt. Im grundlegenden Aufbau unterscheidet sich der für ein erstinstanzliches Vorgehen angefertigte Stichentscheid nicht von einem solchen, der die Erfolgsaussichten einer Berufung zu beurteilen hat. D. h., dass der entscheidungserhebliche Streitstoff darzustellen und anzugeben ist, inwieweit für bestrittenes Vorbringen Beweis oder Gegenbeweis angetreten werden kann. Darüber hinaus sind die sich ergebenden Probleme unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Rechtslehre herauszuarbeiten.  

Erweiterte Anforderungen im Berufungsverfahren

Auf den ersten Blick schiene es ausreichend, aufzuzeigen, wie das erstinstanzliche Urteil angegriffen werden kann. Demnach wären vor allem Rechts- und Verfahrensfehler darzulegen. Allein dieser Maßstab käme den tatsächlichen Anforderungen im Berufungsverfahren aber nicht gerecht. Der Anwalt muss über die nach seiner Einschätzung vorliegenden Rechtsfehler hinaus auch darlegen, dass bei Vermeidung der in seiner Stellungnahme zuvor aufgezeigten Fehler eine Abänderung des Urteils zu Gunsten des Versicherungsnehmers erfolgen müsste (so OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 25.03. 2015, Az.: 7 U 24/14). 

Trotzdem reicht es nach den allgemeinen Anforderungen auch hier, wenn sich der Stichentscheid “nur” auf die Punkte bezieht, auf die der Rechtsschutzversicherer zuvor die Deckungsablehnung gestützt hat. Diese bildet nach wie vor den Prüfungsmaßstab für das anzustellende Gutachten.  

Zur Veranschaulichung soll folgendes Beispiel aus dem Abgasskandal dienen:
Der Versicherungsnehmer unterliegt in erster Instanz mit seiner auf § 826 BGB gestützten Klage. Das Gericht führt zur Begründung aus, er habe keine greifbaren Anhaltspunkte für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung vorgetragen. Gleichwohl bestünde der Anspruch nach § 826 BGB mangels vorwerfbarer Sittenwidrigkeit auch bei unterstelltem Vorliegen der Abschalteinrichtung nicht.
Der Versicherungsnehmer legt nun Berufung u.a. mit der Begründung ein, das Gericht habe seinen Vortrag zur einer Abschalteinrichtung rechtsfehlerhaft unberücksichtigt gelassen. Gelangt der Stichentscheid ebenfalls zu diesem Ergebnis, so reicht das indes nicht aus, um den Anforderungen in diesem Verfahrensstadium gerecht zu werden. Denn die unterlassene Würdigung von Tatsachenvortrag ist zwar ein angreifbarer Rechtsfehler. Gleichwohl müsste das Urteil bei Vermeidung dieses Fehlers nicht abgeändert werden, weil das Gericht die Haftung nach § 826 BGB dennoch abgelehnt hätte. Insofern müsste sich der Stichentscheid dann auch mit der Frage beschäftigen, ob eine unzulässige Abschalteinrichtung auch zur Annahme eines vorsätzlichen und sittenwidrigen Verhaltens führt.  

Aber:
Eine gutachterliche Stellungnahme zu dieser Fragestellung im Sinne einer Abwägung verschiedener Ansichten muss nur dann erfolgen, wenn sich das Argument in der Ablehnung des Versicherers wiederfindet. Bezieht diese sich hingegen nur auf fehlende Anhaltspunkte zum Vorliegen einer Abschalteinrichtung, könnte im Stichentscheid unterstellt werden, dass der Versicherer die Sittenwidrigkeit im Übrigen bejaht hätte, die Ansicht des Instanzgerichts hinsichtlich der fehlenden vorwerfbaren Sittenwidrigkeit mithin selbst nicht teilt.  

Fazit 

Es zeigt sich, dass der Stichentscheid im Berufungsverfahren erhöhten Anforderungen gerecht werden muss, die sich der Rechtsanwalt vor Abfassen seiner Stellungnahme vergegenwärtigen sollte. Gleichwohl bleibt die Argumentation des Versicherers maßgebliche Marschroute für den Prüfungsumfang des Stichentscheids.