OLG Hamburg: kein fiktiver Restwert bei Differenzschadensersatz

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Gut vier Monate nach den Urteilen des Bundesgerichtshofes vom 26. Juni 2023 (u. a. VIa ZR 335/21) besteht bei den Obergerichten weiterhin Uneinigkeit darüber, wie mit der Causa Abgasskandal herstellerübergreifend umzugehen ist.

Dass die Frage des (unvermeidbaren) Verbotsirrtums nach der umfangreichen Segelanweisung des BGH zu divergierender Rechtsanwendung auf der Ebene der Instanzgerichte führen werde, war vorauszusehen. Das OLG Hamburg sah sich darüber hinaus mit Urteil vom 6. Oktober 2023 gezwungen, die Revision wegen des (durch das OLG Hamburg verneinten) Abzuges des hypothetischen Restwertes des streitbefangenen und noch im Besitz des Klägers befindlichen Fahrzeuges zuzulassen (vgl. OLG Hamburg a. a. O. Rn. 40ff., zitiert nach Beck):

„Der Kläger muss sich darüber hinaus jedoch den Restwert nicht anrechnen lassen. Denn da er den Restwert nicht durch Weiterverkauf tatsächlich realisiert hat, handelt es sich um eine hypothetische Schadensposition, die nach dem Sinn und Zweck der Grundsätze der Vorteilsausgleichung beim Differenzschaden unberücksichtigt zu bleiben hat.

aa) Der BGH (Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 44) hat die Funktion des Differenzschadensersatzes damit begründet, dass dieser „im Rahmen der Grenzen des nationalen Rechts sicher [stellt], dass der Verstoß gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EGFGV sowie Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht folgenlos bleibt. Die Wirksamkeit des Anspruchs auf Ersatz des Differenzschadens nach § 823 Abs. 2 BGB bleibt bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht hinter derjenigen des Anspruchs auf „großen“ Schadensersatz gemäß §§ 826, 31 BGB zurück, wenn Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs auf den Differenzschaden erst dann und nur insoweit schadensmindernd angerechnet werden, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen.“

Hinsichtlich der im Rahmen des Vorteilsausgleichs auf den Schaden anzurechnenden Vorteile hat der BGH (NJW 2021, 3594) Folgendes ausgeführt:

Nach den von der Rechtsprechung im Bereich des Schadensersatzrechts entwickelten Grundsätzen der Vorteilsausgleichung sind dem Geschädigten in gewissem Umfang diejenigen Vorteile zuzurechnen, die ihm in adäquatem Zusammenhang mit dem Schadensereignis zugeflossen sind. Es soll ein gerechter Ausgleich zwischen den bei einem Schadensfall widerstreitenden Interessen herbeigeführt werden. Der Geschädigte darf einerseits im Hinblick auf das schadensersatzrechtliche Bereicherungsverbot nicht bessergestellt werden, als er ohne das schädigende Ereignis stünde. Andererseits sind nur diejenigen durch das Schadensereignis bedingten Vorteile auf den Schadensersatzanspruch anzurechnen, deren Anrechnung mit dem jeweiligen Zweck des Ersatzanspruchs übereinstimmt, also dem Geschädigten zumutbar ist und den Schädiger nicht unangemessen entlastet (stRspr, s. nur Senat BGHZ 225, 316 = NJW 2020, 1962 Rn. 65 mwN). Vor- und Nachteile müssen bei wertender Betrachtungsweise gleichsam zu einer Rechnungseinheit verbunden sein. Letztlich folgt der Rechtsgedanke der Vorteilsausgleichung aus dem in § 242 BGB festgelegten Grundsatz von Treu und Glauben (BGHZ 173, 83 = NJW 2007, 2695 Rn. 18 mwN). […].

bb) Der Kläger muss sich jedoch den Restwert des Fahrzeuges nicht im Wege des Vorteilsausgleichs schadensmindernd anrechnen lassen.

Für die Nutzungsentschädigung hat der BGH bereits in seiner grundlegenden Entscheidung vom 25.05.2020 (BGH NJW 2020, 1962, Rn. 81) ausgeführt, dass es im Rahmen des Vorteilsausgleichs auf die aus dem erworbenen Fahrzeug tatsächlich gezogenen Vorteile ankomme; diese lägen darin, dass der Käufer sein Fahrzeug tatsächlich genutzt habe.

Hingegen „zieht“ der Käufer eines Fahrzeuges schon begrifflich keinen Vorteil aus dem Restwert des Fahrzeugs, solange er diesen nicht durch Veräußerung und die Erzielung eines Verkaufserlöses realisiert. Die ständige Nutzungsmöglichkeit eines Kraftfahrzeugs wird nicht allein durch den ihm innewohnenden Restwert begründet, sondern insbesondere durch die für eine jederzeitige Nutzbarkeit zwingend erforderlichen Aufwendungen (insbesondere Pflichtversicherungsbeiträge, KFZ-Steuer etc.). Denn auch ein stillgelegtes Fahrzeug kann über einen Restwert verfügen, ohne dass es jederzeit nutzbar ist.

cc) Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist jedoch das Integritätsinteresse eines geschädigten Fahrzeugeigentümers, der sein bei einem Verkehrsunfall beschädigtes Fahrzeug unrepariert weiternutzt, besonders schutzwürdig; ihm sind aus diesem Grund die den Wiederbeschaffungswert um bis zu 30% übersteigenden Reparaturkosten zu ersetzen. Hierbei hat der BGH ausdrücklich klargestellt, dass bei einer Weiternutzung des Fahrzeugs „der Restwert, wenn und solange der Geschädigte ihn nicht realisiert, lediglich einen hypothetischen Rechnungsposten dar[stellt], der sich in der Schadensbilanz nicht niederschlagen darf“ (BGH NJW 2006, 2179, unter Verweis auf BGH NJW 2003, 2085).

Dies ist mit der Situation des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs durchaus vergleichbar. Denn auch der Hersteller eines Fahrzeugs mit unzulässiger Abschalteinrichtung haftet wegen fahrlässiger unerlaubter Handlung.

Wäre jedoch auch der nicht realisierte Restwert stets vom Differenzschaden in Abzug zu bringen, so wäre der Käufer unter Umständen gezwungen, sein Fahrzeug deutlich früher als bei Anschaffung geplant weiterzuveräußern, um seinen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens nicht durch eine zu hohe Laufleistung zu verlieren. Dies beeinträchtigt jedoch sein Interesse, das Fahrzeug ggf. längstmöglich zu nutzen.

dd) Ferner würde eine Berücksichtigung des nicht durch Weiterverkauf realisierten Restwerts im Regelfall dazu führen, dass ein Differenzschaden bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses aufgezehrt wäre, ohne dass der Käufer auch nur einen einzigen Kilometer mit seinem Fahrzeug gefahren wäre.

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Schadensentstehung ist nach der Rechtsprechung des BGH der Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Der BGH (Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 44) hat hierzu insbesondere ausgeführt, dass ein Differenzschaden „[…] im Falle des Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung aus Rechtsgründen nicht verneint werden kann […]“. Dies beruht auf dem Erfahrungssatz, dass der Käufer das Fahrzeug bei positiver Kenntnis der unzulässigen Abschalteinrichtung auf Grund der damit verbundenen latenten Gefahr der Betriebseinschränkung entweder gar nicht oder allenfalls zu einem geringen Preis gekauft hätte (BGH a.a.O., Rn. 40).

Da der Restwert sich jedoch nach dem jeweiligen Marktpreis bildet und insbesondere eine den Marktteilnehmern unbekannte Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung keinen solchen Preisabschlag verursachen kann, wird im Regelfall davon auszugehen sein, dass der am Marktpreis orientierte Restwert bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses stets höher liegt als der vom Käufer gezahlte, jedoch um den Differenzschaden verminderte Preis. Würde damit auch der nicht realisierte Restwert den Differenzschaden aufzehren, müsste dies stets bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses der Fall sein, ohne dass der Käufer das erworbene Fahrzeug überhaupt genutzt hätte. Zudem besteht ein erheblicher Wertungswiderspruch darin, dass der Differenzschaden umso schneller aufgezehrt wird, je höher er bemessen wird. Denn war der tatsächliche Fahrzeugwert auf Grund von Abschalteinrichtungen lediglich um 5% höher als der tatsächlich gezahlte Kaufpreis, wird der Differenzschaden durch den Nutzungsersatz und den Restwert später aufgezehrt als ein Differenzschaden, der auf Grund besonders schwerwiegender Abschalteinrichtungen mit 15% zu bemessen ist. Dies erscheint zwar bei der Berücksichtigung des Nutzungsersatzes und eines Weiterverkaufserlöses noch hinnehmbar, nicht jedoch beim nicht realisierten Restwert. Gerade Fahrzeuge, die ihre zu erwartende Gesamtlaufleistung fast erreicht oder sogar überschritten haben, erzielen am Markt schon aus statistischen Gründen noch Verkaufserlöse, da es sich bei der zu erwartende Gesamtlaufleistung um einen Mittelwert handelt. Die regelmäßige Berücksichtigung auch des nicht realisierten Restwerts stellt sich insbesondere in diesen Fällen als eine mit den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung nicht mehr vereinbare, unangemessene Entlastung des Fahrzeugherstellers dar.

ee) Auch nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 21.03.2023 – C-100/21, Rn. 95) sind lediglich die für die tatsächliche Nutzung des Fahrzeugs entstehenden Nutzungsvorteile bei der Prüfung einer unberechtigten Bereicherung des Geschädigten zu berücksichtigen. Hingegen „[…] stünden nationale Rechtsvorschriften, die es dem Käufer eines Kraftfahrzeugs praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, der ihm durch den Verstoß des Herstellers dieses Fahrzeugs gegen das in Art. 5 II VO Nr. 715/2007 enthaltene Verbot entstanden ist, nicht mit dem Grundsatz der Effektivität in Einklang.“ (EuGH a.a.O., Rn. 93).

Soweit der BGH daher im Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21 ausführt, dass „[…] Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs auf den Differenzschaden erst dann und nur insoweit schadensmindernd angerechnet werden, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen […]“, kann dies aus den dargelegten Gründen nur auf den durch Weiterverkauf tatsächlich realisierte Restwert zutreffen.“

Hinweis: Das Urteil wurde von der Kanzlei Gansel Rechtsanwälte erstritten. Ob der hier beklagte Hersteller die Revision eingelegt hat, ist bisher unbekannt.