OLG Hamm (20 U 144/22): zur Berücksichtigungsfähigkeit späterer, für den VN streitender Rechtsprechung

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OLG Hamm (I-20 U 144/22): Rechtsschutzversicherer muss Deckung erteilen, wenn sich die Rechtsprechung nach der Deckungsablehnung zu Gunsten des Versicherungsnehmers entwickelt!

Lange war in Rechtsprechung und Literatur (ohne weitere Begründung) unumstritten, dass die Erfolgsaussichten einer Deckungsklage nachträglich mit Blick auf den sog. “Zeitpunkt der Bewilligungsreife” (Datum der Deckungsablehnung) zu beurteilen sind.

Dass eine solche Einschränkung zu Lasten des Versicherers  vorzunehmen ist, ist durchaus verständlich. Denn aus den Rechtsschutzbedingungen folgt, dass der Versicherer sämtliche Einwände gegen die Erfolgsaussichten “unverzüglich” vorbringen muss.

Eine vergleichbare Regelung, die auch eine ex-Post-Betrachtung zu Gunsten des Versicherers verbietet, existiert allerdings nicht. Dennoch verweigerten sich einige Oberlandesgerichte in der Vergangenheit (etwa OLG Schleswig, 16 U 53/22, OLG Bremen, 3 U 13/22) einen für den Versicherungsnehmer positiven Trend, der sich vermeintlich erst nach der Deckungsablehnung abzeichnete, in einschlägigen Deckungsverfahren zu berücksichtigen.

Die Folge waren evident schiefe und widersprüchliche Ergebnisse: Die Gerichte mussten dem klagenden Versicherungsnehmer mitteilen, dass sein Hauptsachebegehren zwar derzeit erfolgsaussichtsreich wäre, er seine Deckungsanfrage aber – untechnisch gesprochen – schlicht zu früh gestellt hatte. Auch negiert diese Auffassung, dass ein späterer Erfolg (ohne Änderung der Gesetzeslage) ohne damalige Erfolgsaussichten schon denklogisch nicht möglich wäre und eine solch eingeschränkte Betrachtung auch in den Versicherungsbedingungen keine Stütze findet.

Diesen Fehlstand arbeitete nun das OLG Hamm (Az.: I-20 U 144/22) erstmals dogmatisch nachvollziehbar auf und kommt zu einem den übrigen Obergerichten widersprechenden Ergebnis:

„Denn nach Auffassung des Senats ist in einem Fall wie dem vorliegenden nicht auf diese frühere tatsächliche (Erkenntnis-) Situation abzustellen, sondern auf die Rechtslage, wie sie sich jetzt (Schluss der mündlichen Verhandlung) darstellt.“

Entgegen der Auffassung der Versicherer (und einiger OLGe) sei bei der Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussichten also nicht ausschließlich auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen, sofern dies zu Lasten des Versicherungsnehmers gehe. Dieser Ansatz fände nach Auffassung des Senats weder eine Stütze in den ARB noch dem VVG. Auch greift das OLG Hamm die allein auf einer Formalität beruhender Widersprüchlichkeit zwischen den tatsächlichen und den “damaligen” Erfolgsaussichten auf. Der Senat betont:

„Wenn sich – bei unverändertem Sachverhalt und unveränderter Vorschriftenlage – in der Rechtsprechung neue Entwicklungen zugunsten des Versicherungsnehmers ergeben, muss diese Entwicklung nach Auffassung des Senats bei der Prüfung der Erfolgsaussichten berücksichtigt werden.

Dem Versicherungsvertrag und den Versicherungsbedingungen in der Rechtsschutzversicherung lässt sich nicht entnehmen, dass die Prüfung der Erfolgsaussichten in einem solchen Fall nicht zugunsten des Versicherungsnehmers die neueste Rechtsprechung berücksichtigen darf. Eine derartige #Einschränkung des Leistungsversprechens des Rechtsschutzversicherers wäre auch #unbillig. Dem Versicherungsnehmer würde Versicherungsschutz versagt, obwohl in der Sache hinreichende Erfolgsaussichten bestünden (und nach der objektiven Rechtslage bereits zum Zeitpunkt der Deckungsablehnung bestanden haben). Dies ist nicht gerechtfertigt, da sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert hat, sondern lediglich die "Bewertung" der Rechtslage (die Erkenntnis darüber) bei identischer Gesetzeslage.

Gleichwohl bestätigt das OLG, dass die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit von nachträglich zu Lasten des Versicherungsnehmers ergehender Rechtsprechung sich erheblich von der dargestellten Fallgestaltung unterscheidet, eine solche Entwicklung mithin keine Berücksichtigung finden darf. Dies liege vor allem auch an der Regelung der „#Unverzüglichkeit“ im Bedingungswerk, welches dahingehend nur den Versicherer bindet. Diese Ungleichbehandlung sei auch zu billigen:

„Die Frage, wie im „umgekehrten“ Fall zu entscheiden ist, wenn also zum Zeitpunkt der Deckungsablehnung nach der Rechtsprechung Erfolgsaussicht bestand, die Rechtsprechung sich dann aber entscheidend zulasten des Versicherungsnehmers ändert, ist eine andere. In einem solchen Fall kann der Versicherungsnehmer geltend machen, dass der Versicherer damals Deckung nicht hätte ablehnen dürfen, die Gerichte dies nicht gebilligt hätten und dass er, der Versicherungsnehmer, durch die in diesem Sinne damals falsche Entscheidung des Versicherers nun nicht schlechter gestellt werden dürfe. Das bedarf hier indes keiner Vertiefung. Es genügt festzuhalten, dass die beiden Fallgestaltungen sich durchaus in erheblicher Weise unterscheiden.”

Im konkreten entschied das OLG über die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Vorgehens gegen die BMW AG. Die im August 2020 ausgesprochene Deckungsablehnung sei zwar inhaltlich nicht zu beanstanden, da sie der damaligen Rechtslage des Bundesgerichtshofes insb. Zu § 823 Abs. 2 BGB entsprach. Dass sich die u. a. an der Rechtsprechung zu orientierenden Erfolgsaussichten allerdings zwischenzeitlich (#C-100/21) zu Gunsten des dortigen Klägers verbessert hatte, war der Beklagte Versicherer antragsgemäß zu verurteilen.

Dieser Ansatz überzeugt auch aus einem weiteren Grund: denn anders als von vielen Gerichten im Ergebnis dargestellt, begehren die Versicherungsnehmer im Rahmen von Deckungsklagen regelmäßig gerade nicht die Feststellung, dass die damalige Ablehnung verschuldet pflichtwidrig ausgesprochen wurde.

Im Ergebnis ist es für einen erfolgreichen Deckungsprozess im Abgasskandal ausreichend, wenn der Versicherungsnehmer hinsichtlich der verbauten (unzulässigen) Abschalteinrichtungen hinreichend substantiiert vorgetragen hat. Dann nämlich kann nach der überzeugenden Auffassung des OLG Hamm nicht ausgeschlossen werden, dass der Versicherungsnehmer einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB hat, #ohne dass er eine #sittenwidrige #Schädigung nachweisen müsste.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das OLG Hamm hat die Revision mit Blick auf die divergierende obergerichtliche Rechtsprechung zugelassen