AG Köpenick (Az.: 4 C 102/23): Kostenübernahme eines Stichentscheids im Rahmen einer Diesel-Abgasskandal-Klage
In einem richtungsweisenden Urteil entschied das Amtsgericht Köpenick am 29. November 2023, dass eine Rechtsschutzversicherung zur Kostenübernahme für einen Stichentscheid verpflichtet ist, wenn dieser zur Klärung der Erfolgsaussichten einer Abgasskandal-Klage dient. Die Klägerin, als Versicherungsnehmerin der Beklagten, forderte die Freistellung von den Kosten eines durch ihren Anwalt veranlassten Stichentscheids in Höhe von 420,07 Euro, nachdem die Versicherung den Deckungsschutz zunächst abgelehnt hatte.
Ausgangssituation und Kern des Rechtsstreits
Die Klägerin ist im Rahmen des Abgasskandals gegen den Fahrzeughersteller Audi vorgegangen und strebt die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen an, nachdem sie 2021 einen Audi Q5 erwarb, der mit dem umstrittenen Dieselmotor EA 189 ausgestattet ist. Dieser Motor ist mit einer Abschaltautomatik und einem sogenannten Thermofenster versehen, die durch das Software-Update nur unzureichend korrigiert wurden. Um ihren Rechtsanspruch auf Schadensersatz für den Kauf des Fahrzeugs durchzusetzen, wandte sich die Klägerin zunächst an ihre Rechtsschutzversicherung, die jedoch den Deckungsschutz ablehnte. Daraufhin veranlasste die Klägerin auf eigene Kosten einen Stichentscheid, um die Erfolgsaussichten ihres Anspruchs auf Deckungsschutz und der Abgasskandal-Klage insgesamt prüfen zu lassen.
Die Rechtsschutzversicherung weigerte sich, die Kosten für diesen Stichentscheid zu übernehmen, da sie der Meinung war, dass der Stichentscheid nicht bindend sei und keine ausreichende Grundlage für den Deckungsschutz bestehe. Sie verwies darauf, dass die Sachlage durch den Stichentscheid unzureichend berücksichtigt worden sei und der Anspruch auf Deckungsschutz für den Schadensersatzanspruch im Rahmen des Diesel-Abgasskandals keine hinreichenden Erfolgsaussichten aufwies.
Entscheidungsgründe des Gerichts
Das Amtsgericht Köpenick entschied zugunsten der Klägerin und stellte fest, dass die Beklagte verpflichtet ist, die Kosten des Stichentscheids in Höhe von 420,07 Euro zu tragen. Die wichtigsten Entscheidungsgründe des Gerichts waren:
- Vertragsrechtliche Verpflichtung zur Übernahme der Kosten für den Stichentscheid: Laut den Allgemeinen Rechtsschutzbedingungen (ARB) der Beklagten hat der Versicherungsnehmer das Recht, bei Uneinigkeit über den Deckungsschutz einen Anwalt auf Kosten der Versicherung um eine Stellungnahme zur Erfolgsaussicht einzuholen. Das Gericht stellte fest, dass dies den Zweck eines Stichentscheids erfüllt und die Kostenübernahme hierauf abzielt. Die Beklagte war somit verpflichtet, diese Deckungskosten zu tragen.
- Bindungswirkung des Stichentscheids gemäß § 128 VVG: Der von der Klägerin veranlasste Stichentscheid war nach den geltenden Versicherungsbedingungen bindend, da er nachweislich alle relevanten Gesichtspunkte einbezog und eine begründete Einschätzung zu den Erfolgsaussichten des Verfahrens gab. Das Gericht führte aus, dass die Beklagte nicht substantiiert darlegen konnte, dass der Stichentscheid von der tatsächlichen Sach- und Rechtslage abwich. Eine Bindungswirkung besteht laut Gericht, sofern die Entscheidung nicht offensichtlich fehlerhaft ist, was im vorliegenden Fall nicht belegt wurde.
- Fehlende Substantiierung der Einwände der Versicherung: Das Gericht bemängelte, dass die Beklagte ihre Argumente gegen den Stichentscheid nicht hinreichend substantiiert darlegte. Die pauschale Behauptung, der Stichentscheid weiche erheblich von der Sachlage ab, sei ungenügend. Für das Gericht war entscheidend, dass die Versicherung ihre Deckungsablehnung auf eine ungenaue Prüfung des Versicherungsschutzes stützte und die erforderlichen Erfolgsaussichten nicht objektiv bewertet hatte.
- Unklare Rechtslage und besondere Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit: Das Gericht bestätigte die besondere Schwierigkeit und Unklarheit der Rechtslage im Diesel-Abgasskandal. Es sei angemessen, dass die Klägerin einen Stichentscheid herbeiführte, um ihre Erfolgsaussichten zu klären. Die Beklagte selbst hatte die Angelegenheit bedingungsgemäß bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zurückgestellt und damit selbst die Komplexität der Rechtsfrage anerkannt. Die Höhe der für den Stichentscheid angesetzten Anwaltsgebühren wurde ebenfalls als angemessen bewertet.
- Kein Erfordernis der Anforderung des Stichentscheids durch die Versicherung: Die Beklagte argumentierte, dass sie die Kosten des Stichentscheids nicht tragen müsse, da sie ihn nicht selbst angefordert habe. Das Gericht wies diesen Einwand zurück und betonte, dass die Versicherungsbedingungen der Klägerin das Recht einräumen, den Stichentscheid auf eigene Initiative durchzuführen, wenn die Erfolgsaussichten eines Falls umstritten sind.
Bedeutung des Urteils und Signalwirkung für Versicherungsnehmer
Dieses Urteil stärkt die Position von Versicherungsnehmern im Umgang mit ihrer Rechtsschutzversicherung, insbesondere in Fällen des Diesel-Abgasskandals. Es bestätigt, dass Versicherungen verpflichtet sind, die Kosten für einen Stichentscheid zu übernehmen, wenn dieser zur Klärung von Erfolgsaussichten erforderlich ist. Das Gericht stellte zudem klar, dass Versicherungen nicht nur pauschal gegen Stichentscheide argumentieren dürfen, sondern ihre Einwände substantiiert darlegen müssen, um den Deckungsschutz ablehnen zu können.
Für die Praxis bedeutet dieses Urteil, dass Versicherungsnehmer auf das Recht zur Einholung eines Stichentscheids pochen können, wenn der Deckungsschutz für eine Klage – beispielsweise im Rahmen des Diesel-Abgasskandals – in Frage gestellt wird. Rechtsschutzversicherungen dürfen sich der Kostenübernahme nicht entziehen, wenn eine angemessene Erfolgsaussicht besteht und der Stichentscheid alle relevanten Umstände berücksichtigt hat.
Fazit
Mit diesem Urteil hat das Amtsgericht Köpenick wesentliche Aspekte des Versicherungsrechts und der Bindungswirkung von Stichentscheiden im Zusammenhang mit Rechtsschutzversicherungen bestätigt. Die Verpflichtung der Beklagten zur Kostenübernahme für den Stichentscheid zeigt, dass die Rechte der Versicherungsnehmer gestärkt werden, insbesondere bei komplexen Schadensersatzfällen wie dem Diesel-Abgasskandal.
Das Urteil setzt einen Präzedenzfall und sendet ein klares Signal an Versicherer, dass sie ihrer Deckungspflicht sorgfältig und mit fundierter Begründung nachkommen müssen, bevor sie Kosten ablehnen können.